von Simone Sommer
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Gruselweihnachten bei den Großeltern

Es war wieder soweit. Die Koffer waren gepackt und im Wagen verstaut. Mama und Papa liefen hektisch im Haus herum, um sicher zu gehen, dass sie auch wirklich nichts vergessen hatten. Denn wie jedes Jahr, fuhren wir über Weihnachten zu meinen Großeltern aufs Land, wo sie ein großes, aber auch sehr altes Anwesen hatten.

Dort versammelte sich dann die ganze Familie, was schön aber gleichzeitig auch etwas nervig werden konnte. Versteht das jetzt bitte nicht falsch, ich liebe meine Familie wirklich, aber alle auf einem Haufen, sind über mehrere Tage schwer zu ertragen. ;)

„Julia hör auf zu trödeln und komm sofort runter. Wir müssen los, bevor der Verkehr schlimmer wird.“, rief mein Vater mir von unten zu, also packte ich meinen Rucksack, nahm mein Handy von meinem Nachtisch und lief schnell die Treppen runter.

Sobald ich im Auto saß, fingen meine Eltern an ein Weihnachtslied nach dem anderen zu trällern, weshalb ich meine Kopfhörer in mein Handy stöpselte und begann mir meine eigene Musik anzuhören. Meine Eltern sind zwar super, aber leider nicht besonders musikalisch begabt, was sie jedoch trotzdem nicht davon abhielt zu singen, wann immer sie die Gelegenheit dazu bekamen. Der Technik sei Dank, hatte ich die Möglichkeit das auszublenden.

Einige Stunden später, kamen wir erschöpft bei meinen Großeltern an. Sobald die Tür geöffnet wurde, schlug mir der Duft nach Weihnachten entgegen. So nannte ich es, wenn der Duft von Omis Gebäck und der Geruch der Tannenbäume aufeinandertraf. Denn das verband ich schon seit meiner Kindheit mit Weihnachten.

Nachdem die große Begrüßungsrunde beendet wurde, ging ich nach oben, um mich in einem der Gästezimmer einzurichten, welches bereits bis ins kleinste Detail vorbereitet waren, so wie es schon immer der Fall war. Das Bett war frisch bezogen, Handtücher lagen bereit und eine Kerze, welche nach Vanille roch, stand auf dem Nachtisch bereit; mein Lieblingsduft. Ach Oma war einfach die Beste.

Während ich noch meinen Gedanken nachhing, hörte ich aufgeregtes Gemurmel von unten zu mir aufsteigen. Neugierig wie ich war, stieg ich langsam die Treppe hinunter und lauschte währenddessen. Ich war so darauf konzentriert, zu erfahren was vor sich ging, dass ich erschrak als unter meinen Füßen eine Diele knarrte. Zum Glück schaffte ich es rechtzeitig mich am Geländer festzuhalten, sodass ich nicht das Gleichgewicht verlor. Wäre ja auch zu blöd, wenn ich jetzt stürzte und mir etwas brach.

Als ich unten ankam, bekam ich noch die letzten Worte des Nachrichtensprechers mit, der betonte, dass alle in den nächsten Stunden zu ihrer eigenen Sicherheit, das Haus nicht verlassen sollen. Ich spürte wie sich mir der Magen umdrehte. Was konnte so schlimm sein, dass wir dazu aufgefordert werden nicht raus zu gehen? Ein Serienkiller? Ein schlimmer Schneesturm? Der dritte Weltkrieg? Was war hier bloß los und vor allem, warum redete keiner mit mir? Mir fällt erst in diesem Moment auf, dass alle wie erstarrt waren und es nicht einmal den Anschein macht als würden sie noch atmen. Mein Großvater saß in seinem Sessel, am anderen Ende des Raums und starrte auf den Fernseher, ohne auch nur zu blinzeln, meine Großmutter stand mitten im Raum, den Blick auf den Teller Kekse in ihrer Hand gerichtet und meine Mutter saß auf dem Sofa, die Hände in ihren Schoß gefaltet, ihre Augen geschlossen, so als ob sie beten würde. Ich schaute mich nach meinem Vater um, doch konnte ihn nirgends entdecken. Wo war er bloß? „Was ist hier los?“, fragte ich in den Raum hinein, doch niemand antwortete. Also fragte ich nochmal, diesmal etwas lauter, doch es antwortete immer noch keiner.

Ich lief zu meiner Großmutter, doch auch als ich mich ihr näherte, reagierte sie nicht. Bei den anderen genauso. Langsam wurde ich wirklich nervös und vielleicht auch etwas panisch und was das Schlimmste war, war dass mein Vater nicht auftauchte. Er wusste doch immer was zu tun war, obwohl ich mir schlecht vorstellen kann, dass er sich jemals in einer solchen Situation befunden hat. Es wirkte nämlich so, als ob zwischenzeitlich Aliens hier gewesen wären und alles versteinert hätten. Oh Gott, ich musste aufhören mich selbst verrückt zu machen.

Da tauchte plötzlich mein Vater hinter mir auf und fragte mich was los sei. Ich fing an zu stottern und drehte mich panisch zu den anderen um, damit er selbst sehen konnte was los war. Doch da war nichts beziehungsweise alles war wieder normal. Im Fernseher lief eine Kochsendung, mein Großvater döste in seinem Sessel, Mama las ihre E-Mails auf ihrem Handy und Großmutter dekorierte den Tisch für morgen. Ich drehte mich verdattert zu meinem Vater, machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch dann schloss ich ihn wieder. Denn ganz ehrlich, was sollte ich sagen. Ich wusste ja selbst nicht, was ich glauben soll, was hier passiert war. Wahrscheinlich war ich einfach übermüdet und meine Fantasie spielte mir einen Streich. Also entschuldigte ich mich und ging nach oben, um etwas zu schlafen.

Am nächsten morgen wachte ich auf und stieg die Treppen hinunter, während ich mich fragte, warum es nicht wie normalerweise am ersten Weihnachtsmorgen, nach Pfannkuchen duftete. Unten angekommen entdeckte ich niemanden, was sehr ungewöhnlich war, denn ich war nie die erste die aufwachte. „HALLO?“, rief ich durchs ganze Haus, doch es kam keine Antwort. Ich ging zum Fenster und schaute hinaus. Alles wirkte wie verlassen. Das Auto meiner Eltern stand nicht mehr vor der Tür und auch das meiner Großeltern fehlte.

Doch es befanden sich auch keine Spuren im Schnee, denn dieser war ganz frisch. Während mir plötzlich dämmerte, dass ich ganz allein war, knarrte eine Diele im Flur und ich erstarrte.

 

,,Weihnachten - Tag der Erinnerung "

20 Dezember, letzter Schultag.

Geschäftig und aufgeregt laufen die Schüler des Gymnasiums durch die Flure, vorbei am

Weihnachtsbaum dessen rote und goldene Kugeln im Schein der Lichterkette funkeln.

Der Duft von frisch gebackenen Plätzchen liegt in der Luft und sorgt für weihnachtliche

Stimmung, genau wie die Weihnachtslieder, die ununterbrochen von den Fünftklässlern

gesungen werden.

Einige Lehrer und Schüler tragen Weihnachtsmützen, andere unterhalten sich mit ihren

Freunden über die anstehenden Feiertage und die dementsprechenden Vorhaben mit der

Familie. Die Wenigsten verhalten sich wie immer und niemand läuft gar traurig und missmutig durch

die Schule. Bis auf Alison. "Hey, Ally, was ist denn los mit dir?", wird sie von ihrer besten Freundin gefragt.

"Ach lass gut sein Cathy, Al hat genauso wenig Lust auf den Weihnachtskram wie ich",

nimmt Samira ihr die Antwort ab. Samira ist Muslima und feiert kein Weihnachten, doch sie hatte dies auch nie bedauert.

Insgeheim beneidet Alison ihre Freundin dafür. Samira muss nicht gute Miene zu bösem

Spiel machen, sie muss nicht lächeln obwohl ihr nach weinen zumute ist und sie muss

genauso wenig in Erinnerungen versinken die sie gleichzeitig vergessen und sich immer

wieder ins Gedächtnis rufen will.

Der Weihnachtsbaum, die Weihnachtslieder, die Plätzchen, ja sogar die Weihnachtsmützen

erinnern Alison an ihre Oma, welche vor einem Jahr verstorben war.

Als einige jüngere Schüler 'All I want for Christmas' singend an ihnen vorbei laufen, dreht sie

sich genervt weg. "Ich gehe in die Mensa, ihr könnt ja mitkommen wenn ihr wollt."

In der Mensa sitzen andere Schüler aus ihrer Klasse, zu denen sich die drei Mädchen

augenblicklich gesellen. Samira und Cathy werden sofort in ein Gespräch verwickelt, was

Alison nur recht ist. So kann sie in Ruhe ihren Gedanken nachhängen.

Weihnachten war das Lieblingsfest ihrer gesamten Familie gewesen. Stets hatte Alison

bereits Wochen zuvor mit ihrer Oma in dessen Küche gestanden und Plätzchen gebacken.

Am Heiligabend selbst waren stets sämtliche Onkel, Tanten und Cousinen angereist,

allesamt mit Weihnachtsmützen auf dem Kopf. In Alisons Kindheit hatte ihre Oma

ununterbrochen Fotos von ihr geschossen: Während des Essens, beim Geschenke

auspacken, mit ihren Eltern oder allein, ganz egal. Sie hatte gesagt, sie wolle dass Alison

diese Erinnerungen für immer in sich trage. Und das hatte sie erreicht, nur das die

Erinnerungen sie nicht mehr mit Freude erfüllen, sondern ihr Tränen in die Augen treiben.

Sie würde so tun müssen als sei alles in Ordnung, als sei Weihnachten noch immer das,

was es einst war, doch das ist es nicht. Weihnachten ohne ihre Oma ist wie Ostern ohne

Eier: Undenkbar!

"Ally?", reißt Cathy ihre Freundin besorgt aus ihren Gedanken.

"Hm? Sorry, ich war gerade irgendwie woanders", gibt diese entschuldigend zurück.

"Das haben wir gemerkt", grinst Samira.

"Wir wollten nur wissen ob du später zum Gottesdienst kommst."

Alison nickt, als die Klingel auch schon die nächste Stunde einläutet.

Nach der Geschichtsstunde in welcher wie eigentlich immer vor den Ferien nur gespielt

wurde, machen sich sämtliche Schüler auf den Weg in die Kirche. In diesem Gebäude kann

Alison sogar verschmerzen, dass das Weihnachtsfest der eigentliche Anlass für das

Zusammenkommen im Gotteshaus ist.

Die Kirche stellt für sie einen Ort der Sicherheit und des Schutzes dar, einen Ort des

Friedens und der Ruhe. Sie hatte schon immer die angenehme Stille gemocht, die ein

Gotteshaus mit sich bringt. Die kunstvollen Dekorationen und Mosaik-Fenster, welche in den

meisten zu finden sind, faszinieren sie immer wieder aufs Neue. Hier kann sie frei von ihrer

Trauer, ihren Ängsten und Sorgen sein. Sobald sie eine Kirche betritt, ist es als würde ihr

sämtliche Last von den Schultern genommen werden, sie ist dann einfach nur Alison.

Jede Woche war sie mit ihrer Oma in der Kirche gewesen, am alljährlichen Krippenspiel

hatten beide stets mitgewirkt und vor einigen Jahren hatte Alison sogar selbst eine Rolle

übernommen. Wann immer sie ein Gotteshaus betritt, fühlt Alison sich ihrer Oma näher denn

je, so auch an diesem Tag, in diesem Gottesdienst.

***

Die nächsten Tage vergehen viel zu schnell für Alisons Geschmack, denn nun ist es der 24.

Dezember. Seufzend steht sie vor ihrem Spiegel und übt das Lächeln ein, welches sie am Abend

aufsetzen musste. Eine undurchdringbare Maske, hinter der so viel Leid und Trauer steckt.

Ihr Blick fällt auf eine Kette, die auf ihrem Schreibtisch liegt.

Nichts Auffälliges, ein schlichter, kreisförmiger, blauer Anhänger an einem schwarzen Band.

Doch diese Kette hatte ihre Großmutter ihr einst geschenkt. Alison will ihre Oma an diesem

Tag so nah wie möglich bei sich haben, weshalb sie sich die Kette umlegt, ihr Lächeln

aufsetzt und nach draußen läuft.

Im Haus ihres Großvaters waren bereits alle Verwandten eingetroffen. Alison begrüßt ihre

Onkel und Tanten, umarmt ihre kleinen Zwillingscousinen und setzt sich anschließend zu

ihrem Opa ins Wohnzimmer. Der Christbaum funkelt in gold und rot, die Krippe war darunter

aufgebaut worden und auf dem Tisch brennen Kerzen. Dieses Jahr hatte die Familie

gemeinsam das Haus dekoriert, eine Aufgabe, die sonst stets Alisons Eltern übernommen

hatten, während sie gemeinsam mit ihrem Opa ihre Oma davon abgehalten hatte, den

gesamten Plätzchenteig im rohen Zustand wegzunaschen.

Halbherzig singt sie mit ihren Cousinen Weihnachtslieder und setzt sich sogar eine

Weihnachtsmütze auf, als ihr Hand plötzlich klingelt.

"Hey Al", hört sie die Stimme ihres besten Freundes. "Sieh mal nach draußen."

Ohne sich groß Gedanken darüber zu machen, woher er das aktuelle Wetter bei ihr zu

kennen scheint wenn er doch gar nicht in der selben Stadt wie sie wohnt, läuft sie verwirrt

zum Fenster und erblickt etwas, das sie seit Jahren nicht gesehen hat: Schnee!

"Johnny das ist wundervoll!", ruft sie begeistert in ihr Handy, während sie auch schon ihre

Schuhe anzieht und ihre Familie zusammenruft. Ihre Cousinen sind Feuer und Flamme,

während die Erwachsenen nur lächeln, den Kindern gemächlich in den Garten folgen und

dabei zu sehen, wie diese sich in der weißen Pracht umherwälzen und Schneeengel auf

dem Rasen entstehen lassen.

Alison baut gerade mit ihren Cousinen und ihrer Tante einen Schneemann, als ein

Schneeball sie am Hinterkopf trifft.

Mit Rachlust in den Augen dreht sie sich um, doch als sie den Übeltäter erblickt, trifft sie der

Schlag. Nach einigen Schocksekunden breitet sich ein Lächeln auf ihrem Gesixht aus. "Johnny!"

Stürmisch rennt sie auf ihren besten Freund zu der sie lachend im Kreis umherwirbelt um sie

dann für eine lange Umarmung in seine Arme zu schließen.

"Was machst du denn hier?", fragt Alison aufgeregt.

"Deine Eltern haben mich eingeladen Weihnachten mit euch zu verbringen." Johnny grinst

und lässt Alison los. "Idiot, wieso hast du denn nichts gesagt?!"

"Wir wollten dich überraschen, damit du den Heiligabend auch wieder genießen kannst",

nimmt ihr Vater ihm lächelnd die Antwort ab.

"Ihr seid unglaublich", sagt Alison und fällt ihren Eltern um den Hals.

"Und ich bekomme keine Umarmung?", fragt ihr Onkel gespielt entrüstet, bevor Alison alle

Anwesenden in eine Gruppenumarmung zieht.

Irgendwann als es dunkel ist, klatscht ihre Tante in die Hände und lotst alle ins Haus um

gemeinsam zu essen. Johnny und Alison albern herum, die kleinen Zwillinge drängen

aufgeregt zur Bescherung und die Erwachsenen grinsen über das rege Geschehen am

Tisch.

Spät am Abend, nach der Bescherung und vielen Stunden voller Geschichten am Kamin,

gemeinsamen Gesang und Weihnachtsfilmen, verzieht Alison sich für einen Moment nach

draußen in den Schnee, wo sie eine Hand um den Anhänger an ihrer Kette schließt. In ihrem

Gesicht hat sich ein ehrliches Lächeln ausgebreitet, eines, welches sie längst für verloren

geglaubt hatte. Selbstverständlich war alles anders ohne ihre Oma, doch sie hat sie nicht vergessen. Alison

wird ihre Großmutter immer im Herzen tragen und sie vermissen, doch sie hofft, dass es

jetzt wieder erträglicher wird. Dass sie Momente wie diese genießen kann, ohne sich

schuldig deswegen zu fühlen. Denn eines hat dieser Abend sie gelehrt: Weihnachten ist

nicht nur das Fest der Liebe, sondern auch der Hoffnung.

 

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